Bestseller-Autorin Stefanie Stahl im Interview
Stefanie Stahl ist nicht nur Deutschlands bekannteste Psychologin, ihr Bestseller „Das Kind in dir muss Heimat finden“ dürfte mittlerweile in jedem zweiten Haushalt der Republik zu finden sein.
Der Ratgeber wurde in 30 Sprachen übersetzt und ist bereits zum fünften Mal in Folge Spiegel-Jahresbestseller. Eine herausragende Leistung! Im Interview mit dem pme Familienservice erzählt Stefanie Stahl, welchen Einfluss die Eltern auf die Entwicklung des Selbstwertgefühls des Kindes haben und warum es sich lohnt, das durchaus kritisch zu betrachten.
Ihr Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ ist ein großer Erfolg. Viele Millionen Menschen haben sich bereits mit ihrem inneren Kind beschäftigt. Wie erklären Sie sich das?
Ich denke, das Buch ist so erfolgreich, weil es sehr vielen Menschen hilft. Im ersten Schritt hilft es ihnen dabei, sich selbst zu erkennen, und im zweiten Schritt, sich selbst dadurch zu helfen.
Woran könnte es liegen, dass sich viele Menschen selbst im Weg stehen und Hilfe von außen benötigen?
Erstmal ist das Leben an sich nicht so einfach. Es stellt uns vor einige Probleme und Herausforderungen. Das liegt in der Natur des Lebens. Hinzu kommt, dass sich Menschen mit sehr vielen Selbstzweifeln und einem geringen Selbstwertgefühl belasten. Viele Menschen haben grundsätzlich Zweifel, dass sie genügen oder dem Leben gewachsen sind. Und das hat eigentlich immer mit der eigenen Kindheit zu tun, indem man beispielsweise falsche Botschaften von den Eltern erhalten hat. Gerade die ersten Lebensjahre sind sehr prägend für das Selbstwertgefühl. Genau hier setzt mein Buch an. Je mehr ich das Gefühl habe, dass ich okay bin, wie ich bin, kann ich mir auch die Erlaubnis geben, ich selbst zu sein. Und desto weniger muss ich mich verbiegen und totarbeiten, um anderen Menschen zu gefallen.
Wie groß ist der Anteil von Eltern bei der Entwicklung des Selbstwertgefühls?
Wir haben zwei Haupteinflüsse: Der eine ist die Genetik. Kinder kommen mit unterschiedlichen Gemütern auf die Welt. Die einen sind ein bisschen ängstlicher und sensibler, die anderen etwas robuster. Der zweite Einfluss sind unsere wichtigsten Bezugspersonen, beispielsweise Mutter und Vater. In der frühen Kindheitsphase formatiert sich unser Gehirn. Jetzt hängt viel davon ab, ob sie uns das Gefühl geben, dass sie uns lieben, oder ob wir ihnen zur Last fallen. Das Entscheidende bei Eltern ist erstens die zeitliche Präsenz und zweitens ihr Einfühlungsvermögen.
Wenn man an sich arbeitet, ist es wichtig, sich diese Prägung anzuschauen und zu fragen: „Was habe ich mitbekommen?“. Dann überlegt man: „Was gehört wirklich zu mir? Was kann bleiben, und was ist eigentlich eine Sache, die zu meinen Eltern gehört?“. Wenn die Eltern beispielsweise andauernd gestresst waren und ich das Gefühl hatte, zur Last zu fallen oder mich stark anpassen und Erwartungen erfüllen zu müssen, dann gehört das eigentlich zu meinen Eltern und nicht zu mir. Sie haben mir das Gefühl mitgegeben, weil sie gestresst waren. Ich dagegen war als Kind total in Ordnung und hätte das Recht gehabt, dass sie mich willkommen heißen und sich Zeit für mich nehmen. Wenn ich heute immer noch glaube, ich falle zur Last, dann hat das nichts mit heute zu tun, sondern mit früher.
Sie sagen, dass jeder Mensch ein „inneres Kind“ hat, das durch positive Glaubenssätze wie „Ich bin gut so, wie ich bin“ („Sonnenkind“) und negative Glaubenssätze wie „Ich bin nicht gut genug“ („Schattenkind“) geprägt wird. Können Menschen, deren Schattenkind besonders ausgeprägt ist, dieses auch positiv für sich nutzen?
Das Schattenkind ist ja eine Metapher. Das klingt ein bisschen esoterisch, aber im Grunde ist es ein Bild für die negativen Prägungen, die jeder mitbekommen hat. Es gibt keine perfekten Kindheiten. Irgendein Thema haben wir alle aus unserer Kindheit, und wenn es nur eine Kleinigkeit ist. Und da geht es nicht darum, das Schattenkind in seine Grenzen zu verweisen, sondern es zu integrieren. Wenn ich beispielsweise den Glaubenssatz habe „Ich genüge nicht“, weil meine Eltern mir nicht das Gefühl vermittelt haben, dass ich okay bin, dann gilt es heute zu erkennen, dass ich es früher mit meinen Eltern nicht leicht hatte, aber völlig in Ordnung war. Wir müssen aufhören, uns mit falschen Botschaften der Eltern zu identifizieren.
Besitzen alle Menschen ein Schattenkind, oder gibt es auch Menschen, die nur ein Sonnenkind in sich haben? Oder fehlt es ihnen eher an der nötigen Selbstreflexion, um es zu erkennen?
Bei den einen stimmt das, andere machen sich was vor. Manche meinen, sie hätten eine super Kindheit gehabt, und beim näheren Hinsehen stellt es sich als Selbstbetrug heraus. Es gibt aber auch Menschen, die in guten Verhältnissen aufgewachsen sind und ein sonniges Gemüt mit auf die Welt gebracht haben.
Und dennoch: Die Prägungen eines jeden Gehirns sind hoch subjektiv – die kulturellen Einflüsse, in welcher Generation man geboren ist, Werte und Normen der jeweiligen Generation … Deshalb ist es immer interessant, sich selbstreflektierend zu fragen, was die eigenen Einflüsse waren. Manche Menschen, die eine sehr liebevolle Kindheit hatten, gehen vielleicht naiv durchs Leben, weil sie meinen, die Welt da draußen ist immer so heil wie bei Mama und Papa. Dann wundern sie sich, wenn sie enttäuscht werden. Die haben vielleicht eine andere Lektion zu lernen.
Was glauben sie, welche Menschen es im Berufsleben leichter haben: die, die nur gute Erfahrungen gemacht haben, oder die, die vorwiegend schlechte Erfahrungen gemacht haben?
Das kann man nicht pauschalisieren. Beruflich kann auch dieses Schattenkind ein großer Antreiber sein. Gerade Menschen, die chronisch das Gefühl haben, nicht zu genügen, sind sehr fleißig. Sie haben einen wahnsinnigen Ehrgeiz, eine tolle Karriere zu machen, weil sie der Welt beweisen wollen, dass sie doch genügen. Die Frage ist nur immer: Wie weit geht das? Viele Menschen, die einen Burnout erleiden, sind überangepasst. Sie wollen es allen recht machen und spüren ihre Grenzen nicht. Menschen, die ein sehr gutes Selbstwertgefühl haben und denen die Karriere nicht so wichtig ist, bleiben manchmal beruflich unter ihren Möglichkeiten. Es kommt immer ein bisschen darauf an, wie sie damit umgehen und ihre Erfahrungen kompensieren. Es ist aber eher so, dass Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl dazu neigen, sich anzupassen – entweder zu viel, indem sie es allen recht machen wollen, oder zu wenig, indem sie ihr eigenes Ding machen.
Haben Sie schon ein neues Projekt in Planung?
Ich sitze gerade am Manuskript für mein neues Buch, das im Herbst erscheinen wird. Darin erkläre ich, wie die menschliche Psyche aufgebaut ist, auch anhand von Therapiebeispielen.
Außerdem gehe ich mit Lukas Klaschinski ab April mit einem Bühnenprogramm auf Tour. Das ist überall schon ausverkauft, worüber ich mich sehr freue. Und dann ist gerade ganz neu noch ein Kartenspiel zu meinem Buch „So bin ich eben!“ erschienen, was überall im Buchhandel erhältlich ist.