Corona-Pandemie: Was macht die Krise mit unseren Ängsten?
Die Sorge um die finanzielle Existenz macht vielen Menschen Angst. Aber auch Risikogruppen und deren Angehörige reagieren mit Stress und Sorge auf die Corona-Krise. Neben Angststörungen und Depressionen sei vor allem der Missbrauch von Suchtmitteln stark angestiegen, warnt die Berliner Psychologin Mandy Simon.
Wie geht es Ihnen? Haben Sie Angst?
Mandy Simon: Angst habe ich nicht. Aber ich mache mir natürlich auch Gedanken, wenn ich die steigenden Infektionszahlen beobachte.
Was ist Angst eigentlich?
Grundsätzlich ist Angst ein gesundes und überlebenswichtiges Gefühl, das uns auf mögliche Gefahren hinweist und schützt. Auf körperlicher Ebene spüren wir die Reaktionen Flucht oder Kampf, je nachdem welche Gefahr uns entgegentritt. Bei einer Angststörung sind diese Ängste übersteigert und schränken unsere Lebensqualität ein. Das heißt, wir können unseren Alltag nicht mehr so leben, wie wir es gerne wollen. Das ist ein großer Marker, um Angst von einer Angststörung zu unterscheiden.
Gibt es Personengruppen, die jetzt in der Krise eher gefährdet sind, starke Ängste zu entwickeln?
Ja, Risikogruppen oder Menschen, die sich um Risikogruppen kümmern und sich Gedanken darüber machen, wie es weitergeht, wenn es zu einer Ansteckung kommt. Und Menschen, die durch Corona finanzielle Einbußen haben, ihren Job verloren haben oder fürchten, ihn zu verlieren. Viele fragen sich auch, wie es weitergeht, wenn die Kurzarbeit ausläuft. Und es ist an dieser Stelle auch nicht klar, wie es weitergeht.
Haben die Ängste immer mit Corona zu tun, die Ihnen die Menschen am Telefon oder in der Beratung berichten?
Was wir ganz deutlich merken, ist die Verknüpfung zwischen Alltagsleben und Corona. Bestimmte Bewältigungsmechanismen der Regulierung, die vor Corona funktionierten, sind nicht mehr oder nur sehr begrenzt möglich. Urlaub am Meer, Fitnessstudio, Freunde, Kneipe, Fußball – all das sind Dinge, die einen Ausgleich schaffen, aber selbst in der gelockerten Phase nur begrenzt möglich waren. Oder blicken Sie auf das kulturelle Leben: Das hat erst gar nicht wieder richtig stattgefunden.
Von Anfang März bis jetzt: Haben sich Ängste im Verlauf der Pandemie verändert?
Ja, insofern als dass wir jetzt über das Virus mehr wissen. Die Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass sie durch ihr eigenes Verhalten dazu beitragen können, das Virus einzudämmen. Das gibt Sicherheit. Was die Leute aber unsicher macht, sind die sich ständig ändernden Regelungen: Was darf ich wann und wo, und wie viele dürfen wir sein? Die Belastungen sind da, weil das Leben einfach nicht wie vor Corona ist.
"Sorge vor Vereinsamung ist groß."
Aber das Schlimmste an der Pandemie ist doch die soziale Distanz, oder?
Wer sehr vorsichtig ist, sich an die Regeln hält, Single ist und alleine lebt, der hat seit Monaten niemanden mehr umarmt oder ist einem Freund nicht nähergekommen als 1,5 Meter. Das hat natürlich enorme Nach- und Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Wir sind soziale Wesen. Selbst eine kurze Umarmung eines Freundes kann sehr wichtig sein. Erst vor kurzem hat der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski in einer repräsentativen Umfrage festgestellt, dass die Sorge vor Vereinsamung fast genauso verbreitet ist wie die Angst vor Altersarmut. Und Angst vor der Armut im Rentenalter hat jeder zweite Deutsche.
Einsamkeit und Isolation sind beides ernstzunehmende Themen, die den Menschen auf Dauer chronisch krank machen. Es ist wichtig, dass dieses Thema stärker in den Fokus von Gesellschaft und Politik gerückt und enttabuisiert wird.
Menschen, die schon vor Corona unter einer Angststörung litten: Wie fühlen sie sich jetzt in der Krise?
Die Betroffenen haben Angst, sich anzustecken und das Virus unwissentlich an andere zu übertragen. Es ist der Kontrollverlust, der ihnen Angst macht und sie lähmt. Sie sind dann in der Reaktion und nicht in Aktion. Viele Menschen mit Angststörungen haben das Gefühl, noch mehr die Kontrolle zu verlieren, als es schon vor Corona der Fall war. Und niemand kann ihnen mit absoluter Sicherheit sagen, wie es weitergeht. Wir haben gesehen, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse ändern. All diese Unklarheiten befeuern die Ängste noch stärker, da es momentan nicht vieles gibt, worauf sie sich verlassen können.
„Vor allem Manager*innen sorgen sich um die wirtschaftliche Zukunft.“
Das klingt ganz schön dramatisch für Menschen mit Angststörungen.
Der Leidensdruck bei Angststörungen ist sehr groß. Wenn das Gefühl der Handlungsunfähigkeit bei den Betroffenen dauerhaft bestehen bleibt, kann das in einer depressiven Symptomatik münden. Es ist wichtig, dass sich die Menschen Unterstützung holen und darüber sprechen. Viele trauen sich auch nicht, auf der Arbeit anzusprechen, dass sie sich mehr Sicherheit wünschen. Hier kann ich nur an Arbeitgeber und Führungskräfte plädieren, Homeoffice anzubieten, sofern es arbeitstechnisch möglich ist.
Erzeugt die Pandemie am Ende eine Gesellschaft der Angst?
Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Menschen Angst hat, sich anzustecken. Das zeigen auch neueste Studienergebnisse. Wenn ich mich aber auf meinen Eindruck und auf den meiner Kolleg*innen verlasse, dann bemerken wir, dass der Missbrauch von Suchtmitteln mit den Einschränkungen angestiegen ist. Zu Hause wird mehr konsumiert als in der Bar. Allein schon, weil es billiger ist. Einige greifen zur Flasche, um einen Umgang mit der Situation zu finden. Zum Beispiel um die Sorge um die finanzielle Existenz zu betäuben. Vor allem Selbstständige und Manager*innen sorgen sich um die wirtschaftliche Zukunft der Firma und ihre berufliche Perspektive. Aber das betrifft auch viele andere Gruppen, die durch Covid-19 ihr Leben neu strukturieren mussten.
„Ein Anruf bei Oma kann schon helfen.“
Wir wird sich das weiterentwickeln mit Blick auf den Winter und verstärkten Kontaktsperren?
Ich warne davor, Panik zu machen. Aber es ist wichtig, die Menschen zu sensibilisieren, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Jede und jeder sollte sich überlegen, wie er am besten mit den Einschränkungen umgehen kann. Wir haben Erfahrungen im Frühling sammeln können, auf die wir jetzt wieder zugreifen können: Was hat mir damals gutgetan? Welchen Ausgleich kann ich finden? Anderen helfen ist zum Beispiel ein sehr wirksames Mittel, um mit seinen Ängsten besser umzugehen. Das kann die Nachbarschaftshilfe sein oder auch einfach der Anruf bei Oma, um sie zu fragen, wie es ihr geht.
Meine Oma anrufen? Hilft mir das denn, wenn ich eine Angststörung habe?
Ja, denn dann reagiere ich nicht nur, sondern ich agiere. Das ist wichtig. Wenn ich anderen in schwierigen Situationen helfe, dann merke ich: Ich bin hilfreich als Person! Und dann drehe ich mich nicht nur um mich selbst und bespiegle meine Angst, sondern schaffe einen Abstand zu meinen Ängsten. Stichwort: Selbstwirksamkeit. Was so viel heißt wie: Ich mache die Erfahrung, dass ich eine neue oder schwierige Situation zwar unter Anstrengung, aber ganz alleine und souverän bewältigen kann. Das macht mich stärker und selbstbewusster.
Was kann ich noch tun, um mehr Herr oder Frau meiner Ängste zu werden?
Es ist wichtig, dass die Betroffenen ihren Medienkonsum einschränken und nicht weiter Öl ins Feuer gießen. Ich rate jedem, nur einmal am Tag Nachrichten zu hören und sich nicht quer durchs Internet zu klicken. Eine bewährte Strategie, um sich „runterzubringen“, ist die 5-Sinne-Übung: Was sehe, höre, schmecke, rieche und fühle ich gerade? Auch ein Tagebuch kann helfen, in dem ich aufschreibe, was mich belastet, aber auch was gut lief und mir Freude bereitet hat. Und sei es nur die Kassiererin, die mich freundlich angelächelt hat. So kann ich am Ende der Woche sehen, dass vielleicht gerade nicht alles so toll ist, aber auch viel Gutes passiert. Sie werden überrascht sein, wie viel Gutes Sie in nur einer Woche erfahren können.
Und sehr wichtig ist auch: Mit einer Vertrauensperson reden, mit uns oder der Telefonseelsorge über die Ängste und Sorgen und einfach darüber, wie es momentan geht und was schwierig ist. Und tun Sie sich Gutes! Nehmen Sie ein Bad, oder gehen Sie trotz schlechtem Wetter mit Regenjacke raus, und bleiben Sie in Bewegung. Verabreden Sie sich zur Online-Kaffeepause mit Kolleg*innen, und reden Sie über etwas anderes als die Arbeit. Achten Sie auf sich.
Ist es normal, wenn ich in dieser Zeit gar keine Angst habe?
Es gibt Leute, die haben so gute Bewältigungsmechanismen, dass sie mit der aktuellen Situation gut klarkommen und damit angstfrei umgehen können. Oft sind das auch Personen, die eine gewisse Pragmatik an den Tag legen oder sehr krisenerprobt sind. Das merke ich zum Beispiel, wenn ich mich mit medizinischen Fachkräften unterhalte, die oft sehr sachbezogen argumentieren.
Mandy Simon ist Diplom-Psychologin und systemischer Coach in Organisationsentwicklung beim pme Familienservice. Außerdem ist sie zertifizierte Onlineberaterin. Als Fachberaterin unterstützt sie Führungskräfte und Mitarbeiter*innen gleichermaßen sowohl in akuten Überlastungssituationen als auch in der Burn-out-Prävention.
Seit 2009 arbeitet sie an der Lebenslagencoaching-Hotline des pme Familienservice.
Quellen:
Statista-Umfrage in Deutschland zu Angst vor Ansteckung
Studie zur Rente: Jeder zweite hat Angst vor Altersarmut