Was war der Auslöser, um Yoga auszuprobieren? Und warum gerade Yoga?
Anja Liedtke: Als ich 2008 das erste Mal Yoga ausprobierte, war ich eigentlich der Meinung, dass das für mich als übergewichtige Frau nichts ist. Denn in den Zeitschriften sah ich nur die schlanken, biegsamen Frauen in enganliegenden Leggins und Shirts. Zum Glück gab es da eine Stimme in mir, die herausfinden wollte, ob das nicht doch zu machen ist.
Als Übergewichtige war ich weder im Sportverein noch im Sportstudio wirklich willkommen. Zumindest hatte ich das Gefühl, ständig angestarrt zu werden, und ich fühlte mich oft unwohl. Beim Walking bin ich immer hinterhergelaufen und habe die Gruppe aufgehalten, was mir sehr unangenehm war.
Yoga schien eine Bewegungsalternative zu sein, bei der ich alleine üben kann und mich nicht so sehr anstrengen muss. Dachte ich. In der Tat war in den ersten Yogastunden vieles so herausfordernd, dass ich nicht mitkam und wieder oft die Außenseiterin war. Zur damaligen Zeit – und leider auch heute oft noch – konnten die Lehrer keine Übungsvarianten anbieten, um auf meine spezielle Herausforderung einzugehen.
„Bitte stell dich nach hinten, damit die anderen etwas sehen können“, war nur einer der Sätze, die ich zu hören bekam. Auch dass andere Teilnehmer sagten: „Die Dicke hält den ganzen Kurs auf“ hat mich sehr verletzt. Und doch habe ich weitergemacht, weil ich tief in mir gespürt habe, dass Yoga für mich eine Tür öffnen kann zu mir selbst.
Was ist die Stärke von Yoga?
Anja Liedtke: Vorab möchte ich herausstellen, was Yoga eigentlich ist – bzw. was es nicht ist. Yoga ist KEINE Gymnastik. Yoga ist eine Lebenseinstellung, eine Unterstützung, zu seinem Wesenskern zu finden. Wer Yoga in sein Leben einlädt, wird sich selbst kennenlernen. Durch die Verbindung von Atmung, Bewegung und begleitenden Affirmationen entwickelt sich eine emotional-mentale innere Ruhe. Aus dieser Ruhe entstehen Klarheit und Vertrauen, sich dem Wandel zuzuwenden. Yoga kann das Leben vollständig verändern, wenn man sich seiner Qualität anvertraut.
Durch die Vereinigung von Körperempfindung in der Bewegung und der Achtsamkeit, dem Bewusstsein der Gedanken und inneren Widerstände kann eine Kraft entstehen, die erdet und die Selbstsicherheit stärkt. Weg vom Bodyshaming, hin zur Selflove. Mein Motto: “Love yourself and the rest will follow”.
Sie sind selbst Yogalehrerin. Was ist Ihnen in Ihren Kursen wichtig?
Oftmals haben Übergewichtige einen langen Leidensweg an Hänselungen und Beschimpfungen hinter sich. Daraus erwachsen Glaubenssätze, die verhindern, dass man sich selbst für liebenswert hält. Oft höre ich Sätze wie „Das kann ich nicht“ mit der größten Überzeugung. Daran ist zu sehen, wie tief dieser Druck von außen wirkt.
Beim Big Yoga übt jeder für sich, so wie es ihm in diesem Moment geht, wie er körperlich in der Lage ist. Es gibt keinen Vergleich zum Nachbarn auf der Matte. Da sitzt dann vielleicht der eine auf dem Stuhl, während der andere lieber liegt und der nächste die Übung im Sitzen macht. Und niemand schaut komisch, keiner fühlt sich durch die Unterschiedlichkeit behindert. Es muss auch niemandem unangenehm sein, wenn das T-Shirt etwas verrutscht und ein Stück Bauch zu sehen ist. Das entspannt sehr. Denn all diese Scham lenkt uns davon ab, uns so zu akzeptieren, wie wir im Moment sind.
Durch mentale Ansprache motiviere ich die Teilnehmer, bei sich zu bleiben und die Yogastunde ganz für sich zu nutzen. Dabei motiviere ich sie immer wieder, hinzuspüren, wie sie mit sich selbst umgehen. Das beinhaltet nicht nur die Beobachtung des Körpers (was kann mein Körper?), sondern es geht – viel wichtiger – um den Umgang mit mir selbst: Schimpfe ich beispielsweise mit mir oder gehe ich auch dann liebevoll und geduldig mit mir um, wenn ich einmal nicht so perfekt bin, wie ich es gerne hätte?
Eine weitere Besonderheit beim Big Yoga ist, dass ich nicht mitübe. So kann ich meine Teilnehmer beobachten, sehen, ob jemand zum Beispiel ein Hilfsmittel braucht, und die Stunde ganz flexibel an die Bedürfnisse anpassen. Und ich sehe, wenn jemand eine völlig andere Übung braucht, weil die aktuelle Konstitution die Übung nicht erlaubt.
Bewegung ist generell sehr wichtig. Welchen speziellen Nutzen hat sie bei Menschen mit Übergewicht?
Anja Liedtke: Ganz richtig. Bewegung tut jedem gut. Auf den Nutzen von Bewegung für den Körper möchte ich gar nicht so eingehen. Viel ausschlaggebender finde ich, wie sich Bewegung auf die Psyche auswirkt. Bewegung hat immer den Effekt, dass man den eigenen Körper wahrnimmt, ihn und seine Fähigkeiten entdeckt und achtsam die erkannten Grenzen verschieben kann. Die Gesundheit dankt es auf jeden Fall, vor allem die mentale Gesundheit, denn der Körper wird mit mehr Sauerstoff versorgt, und so wird man auch geistig fitter.
Wie oft habe ich die vermeintlich gut gemeinte Empfehlung gehört: „Du solltest besser mal eine Stunde laufen gehen, statt Schokolade und Kekse in dich hineinzustopfen“. Sportliche Ablenkung statt Essen. Das funktioniert aber leider nicht. Hat man sich aber, am besten mit anderen Übergewichtigen, bewegt, den Kreislauf angekurbelt und die eine oder andere Kalorie verbrannt, darf es auch mal eine Belohnung sein – wenn man dann noch Lust darauf hat.
„Ich bin groß, dick und Yogalehrerin“. So beschreibt sich Anja Liedkte selbst. Mit ihrer Yogaschule Big Yoga bietet sie Yogakurse speziell für Menschen mit Übergewicht an.
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