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Psyche

Anne Otto: „Haltung zeigen kann man lernen“

Wir leben in stürmischen Zeiten und unsere Gesellschaft scheint zu Themen wie Krieg, Migration, Klimawandel, Gendern oder Impfen zutiefst gespalten. Das macht auch vor der Arbeitswelt nicht Halt. Wie also damit umgehen, wenn wir auf grundsätzlich andere Meinungen oder gar diskriminierende Aussagen treffen?

Erfahren Sie im Interview mit Psychologin und Autorin Anne Otto, was dabei hilft, bewusst eine eigene Haltung zu entwickeln und in unangenehmen Gesprächssituationen sicher zu reagieren. 

Frau Otto, Sie beschäftigen sich intensiv mit den Ursachen von Hass, Rassismus und Rechtsruck. Wie kam es dazu?

Das begann im Jahr 2015, als  das politische Klima in Deutschland schwieriger wurde. Ich habe mich vorher in unserer Demokratie recht wohl gefühlt und fand sie nicht gefährdet. Dann sprachen die Fakten immer mehr gegen die Demokratie und für mehr Hass und Rassismus. Ich dachte: „Hilfe, wo kommt das denn jetzt her, dass es so einen Hass gegen schutzbedürftige Geflüchtete gibt, dass Menschen wieder offen sagen, was man vorher nur ganz selten aufgeschnappt hat?“. Ich wollte wissen, was da los ist und was man aus psychologischer Sicht beitragen kann.

Ich habe begonnen, Artikel zu den Ursachen von Hass zu schreiben, dann folgte mein Buch „Woher kommt der Hass?“. Für beides bekam ich viel Resonanz. Viele Leute haben mich gefragt: „Was sollen wir denn jetzt machen?“. Leider gibt es nicht die eine Lösung. Was ich aber sagen kann, ist: Es hilft, wenn man besser orientiert ist. Auch auf der psychologischen Ebene.


 

Inwiefern hilft es, orientiert zu sein? 

Erst einmal geht es darum, für sich selbst zu klären: „Wo stehe ich?“. Kein Mensch ist ohne Vorurteil, deshalb gilt es, sich selbst zu reflektieren. Auf andere Menschen bezogen hilft es, besser einschätzen zu können, wen man vor sich hat und wo dessen Aussage herkommt: „Das ist jetzt ein festsitzendes Vorurteil“, „Mit dieser Person kann man nicht weitersprechen“ oder „Das ist eine verunsicherte Person, die wiedergibt, was andere sagen“. Wenn ich mehr über die andere Person weiß, kann ich besser mit ihr interagieren und im Gespräch bleiben.

Sie haben schon verschiedene Gesprächssituationen angesprochen, die auch im Rahmen unserer Kampagne „Im Gespräch bleiben - Haltung zeigen“ Thema sind. Wie verstehen Sie dieses Motto?

Die Kampagne „Im Gespräch bleiben – Haltung zeigen“ besteht ja aus zwei Aspekten: einerseits das Gespräch, andererseits die Haltung. Der Part „Im Gespräch bleiben“ bedeutet, dass ich von Menschen, die mir vielleicht nahestehen oder wo ich viele Ressourcen sehe, wissen will: „Wie kommst du dazu, dass du dich von demokratiefeindlichen Kräften überzeugen lässt oder andere mobbst?“.

Wo Verständnis und Gesprächsbereitschaft nicht mehr angebracht sind, kann ich auf der anderen Seite sagen: „Das geht nicht, hier ist die rote Linie überschritten!“. In meinem Workshops und Vorträgen erlebe ich immer wieder, dass die meisten Menschen nicht wissen, wo ihre rote Linie ist. 

Sie arbeiten unter anderem mit der Gesprächsmethode der radikalen Höflichkeit. Was genau ist das, und haben Sie ein Beispiel, wie eine Situation mit dieser Methode gelöst werden kann?

Das Prinzip der radikalen Höflichkeit stellt Techniken vor, mit denen man zum Beispiel erfragen kann, wie die andere Person zu ihrer Meinung kommt, und erst dann sachliche, politische Argumente bringt, wenn eine gewisse Offenheit im Gespräch entstanden ist.

Mir fällt ein Beispiel aus unserem Kampagnen-Workshop ein, wo wir geübt haben, Gesprächssituationen mit radikaler Höflichkeit zu gestalten. Eine Teilnehmerin erzählte von einer Familienfeier, ich glaube, ein neunzigster Geburtstag. Die älteren Menschen fingen an, sich darüber zu mokieren, dass sie nicht von Deutschen gepflegt werden. Alle wiederholten Vorurteile, einige äußerten sich offen rassistisch. In so einer Situation möchte man gern etwas sagen, es würde aber wahrscheinlich die Feier sprengen, wenn man sagt: „Was redet ihr denn da? Ihr spinnt ja“. Nach den Regeln der radikalen Höflichkeit würde es sich eher empfehlen, sich mit der Person, die einem wichtig ist, zu zweit zu verabreden und darüber zu sprechen. In der schwierigen Situation selbst kann ich aber zum Beispiel sagen: „Ich habe eine andere Meinung dazu. Ich möchte mich mit dir darüber unterhalten“. 

 Was ist radikale Höflichkeit?

Das Prinzip der radikalen Höflichkeit wurde von der Initiative „Kleiner Fünf“ entwickelt. Das Anliegen der Berliner Aktivistinnen und Aktivisten ist es, Menschen politisch ins Gespräch zu bringen, wieder mehr auf Augenhöhe zu diskutieren. Ihnen geht es aber auch darum, rote Linien zu markieren und zu zeigen, wann ein Austausch nicht mehr sinnvoll ist oder Positionen menschenverachtend werden und so nicht stehenbleiben können.

„Kleiner Fünf“ bietet Workshops und Lehrvideos an und hat außerdem ein Handbuch im Pocket-Format herausgebracht, das auf der Webseite kleinerfuenf.de kostenfrei bestellt werden kann: „Sag was! Radikal höflich gegen Rechtspopulismus argumentieren“ (Oetinger).

 

Im Seminar hat eine Kollegin bei der Übung auf eine ganz ruhige Art immer wieder gefragt: „Wieso ist das schlimm für dich, was befürchtest du?“. Da kann es sein, dass am Ende rauskommt, dass sich die Person einsam fühlt. Dann kann man sagen:  „Ich fühle mich auch manchmal einsam, aber ich ziehe andere Schlüsse daraus“. Und dann kann man mit Argumenten reingehen – zum Beispiel, was man von Deutschland als Einwanderungsland denkt. Hier hilft es, sich ein paar Sachen zurechtzulegen, die einem wichtig sind. 

Was die Teilnehmenden an diesem Beispiel sehen konnten: Durch die Ruhe  und Gewissenhaftigkeit, mit der die Fragen gestellt wurden, kam eine ganz andere Stimmung auf. Es gibt allerdings keine Garantie, dass das funktioniert oder dass man es schafft, in eine offene Gesprächssituation zu kommen. Viele Menschen wollen nicht reden, oder sie wollen provozieren, lassen sich nicht einfangen und springen von einem zum nächsten Thema. Da kann ich dann auch sagen: „Ich glaube, du willst gar nicht diskutieren“.

So ein Thema löst man nicht in einem Gespräch, das wäre zu viel verlangt. Aber ich glaube, diese Gesprächstechniken sind eine Chance, anderen wieder zu begegnen. Gleichzeitig helfen sie auch dabei, genauer zu erkennen, in welchen Momenten es angesagt ist, klare Kante zu zeigen und anderen zu signalisieren, an welcher Stelle etwas indiskutabel wird. Es geht den Erfinder:innen dieser Techniken also um beides: im Gespräch höflich zu bleiben, aber sich auch abzugrenzen. Deshalb auch der Zusatz „radikal“.

 Buchtipp: "Woher kommt der Hass?" von Anne Otto

Rassismus, rechtsextreme Gesinnungen und die aggressive Herabsetzung »der anderen« sind wieder erschreckend salonfähig geworden. Wie ist das möglich? Woher kommt dieser Hass? Anne Otto fragt nach den psychologischen Mechanismen, die dazu beitragen, dass Menschen sich wieder offen rassistisch äußern, nach Autoritäten verlangen oder sogar überzeugt Blut- und Boden-Ideologien vertreten. 

Penguin, 2019

Was sind die Stärken dieser Methode?

Die radikale Höflichkeit ist nur eine von mehreren Kommunikationstechniken, die ich vorstelle, auch Elemente aus der Konfliktkommunikation oder klassische Gesprächsführungsregeln sind oft hilfreich. Die Stärken der radikalen Höflichkeit liegen im politischen Anspruch. Es geht darum, die Demokratie zu fördern und als Bürgerinnen und Bürger im Gespräch zu bleiben. Etwa indem ich sage: „Mich interessiert deine politische Meinung“.

Außerdem schult man sich im Argumentieren, denn oft fehlen uns in den typischen Situationen der Hilflosigkeit nicht nur eine passende Gesprächshaltung, sondern auch gute Argumente. Eine weitere Stärke besteht darin, dass man in sich geht und überlegt: „Was ist eigentlich meine Ansicht, und wie kann ich sie belegen?“.

Hatten Sie schon mal so eine Situation, wo Sie vor den Kopf gestoßen waren mit einer Aussage? Wie sind Sie damit umgegangen?

Natürlich erlebe ich das immer mal wieder. Im privaten Umfeld, aber auch bei Vorträgen oder in öffentlichen Veranstaltungen. Neulich habe ich in einem Seminar zum Thema Vorurteile gefragt: „Wann habt ihr mal gemerkt, dass sich Vorurteile von euch verändert haben?“. Eigentlich wollte ich von den Teilnehmenden wissen, wann sie ein Vorurteil aufgegeben haben, was ihnen dabei geholfen hat. Da sagte eine ältere Dame vor der ganzen Gruppe: „Ich hatte früher keine Vorurteile gegen Ausländer, aber jetzt schon“. Ich war total perplex und habe gedacht: „Was sag ich denn jetzt?“. Schließlich habe ich gesagt: „Das finde ich schade, dass Sie das so sehen. Ich sehe das anders als Sie, aber wir können das jetzt in diesem Rahmen nicht klären. Vielleicht sprechen wir nach der Veranstaltung nochmal.“  Das war nicht gut, aber den Teilnehmenden hat es gereicht, dass ich darauf reagiert habe. Manchmal geht es darum, überhaupt etwas zu sagen. 

Ich erlebe in meinen Workshops große Unsicherheit oder Befangenheit. Oft wissen die Personen nicht, wie sie auch nur einen Satz sagen sollen, wenn sie denken, hier läuft gerade etwas aus dem Ruder. Sie brauchen Ermutigung für die ersten Schritte.

Gibt es in Situationen der Sprachlosigkeit einen Gesprächsanker, der in den meisten Fällen hilft?

Immer hilfreich sind Fragen wie „Wie meinst du das?“ oder „Das versteh ich jetzt nicht so ganz“. Im Grunde genommen geht es wie in vielen anderen Kommunikationssituationen darum, nochmal nachzufragen, was damit konkret gemeint ist. Sehr oft äußern Menschen ja nebulöse Dinge. Fast immer passt es dann, zu sagen: „Das sehe ich vollkommen anders, lass uns in Ruhe darüber reden“. Wenn es eine große Grenzüberschreitung ist, kann ich auch sagen: „Das geht für mich jetzt gar nicht“ oder „Was du hier sagst, ist menschenverachtend“.  

Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Grenzen solcher Kommunikationstechniken?

Manchmal gilt es eine Ambivalenz auszuhalten und sich bewusst zu machen: „Hier finden wir keine Lösung“. Aber es ist auch keine Lösung, nicht mehr miteinander zu reden. Was soll aus der Gesellschaft werden, wenn keiner mehr mit dem anderen sprechen kann? Allerdings muss man nicht mit jedem Frieden schließen und jeden mitnehmen. Ein bisschen geht es da auch um dieses „Leben und leben lassen“.

Ist es auch im Arbeitskontext sinnvoll, klare Haltung zu zeigen und über Meinungen zu diskutieren?

Hier ist es besonders wichtig, zu schauen, wie die Situation ist und wie man zueinander steht. Wenn beispielsweise ein Teammitglied latent schimpft, hetzt oder Vorurteile äußert, kann man sich nicht permanent mit diesem Kollegen oder dieser Kollegin austauschen. Wenn mir jemand auch bei der Arbeit besonders wichtig ist, könnte ich das so angehen wie im Beispiel der Familienfeier, also zu zweit sprechen. Und wenn im Team jemand immer wieder in eine Mobbingrichtung geht, ist es wichtig, Allianz und Unterstützung zu bieten.

Das Nachfragen und Diskutieren mit radikaler Höflichkeit führen in einem solchen Fall zu nichts. Es wäre passender, der angegriffenen Person beizustehen. Oder andere Anti-Mobbing-Interventionen anzuwenden: erst einmal versuchen, es im Team zu lösen, und wenn das nicht hilft, mit der Führungskraft sprechen. Wichtig ist, immer wieder zu sagen: „Das ist nicht in Ordnung“ und die eigene Position in diesem sozialen Gefüge aufzuzeigen. Also Haltung zu zeigen.

Was ist aus Ihrer Sicht für die Zusammenarbeit in Teams wichtig?

Wenn Menschen sagen: „Wir haben in unseren Teams so große Konflikte, weil wir politisch nicht mehr zusammen ticken“, lässt sich das oft nicht lösen. Wo Menschen zusammenarbeiten, muss man auch mal den „Notausgang“ nehmen. Der besteht darin, dass wir uns fragen: Können wir uns auf unsere Stärken als Team berufen, als Arbeitsgemeinschaft zusammen funktionieren und respektvoll miteinander umgehen? Bei der Arbeit haben wir das Ziel, gut und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Ich finde es dennoch wichtig, dass niemand allein bleibt, der ausgegrenzt wird. 

Im Job haben wir vor allem die Zusammenarbeit als Verbindungsstück, da geht es weniger um persönliche Beziehungen. Was bedeutet das für die Gesprächssituation?

Es gibt einen Unterschied zwischen Arbeit und Privatleben. Alle Gespräche, die zu emotional oder laut werden oder in denen man sich zu sehr auf eine tragfähige persönliche Beziehung verlässt, sind bei der Arbeit eher schwierig. Man hat in seinen guten Freundschaften und Beziehungen einen Kredit, den man auf der Arbeit nicht hat. Das unterschätzen viele Menschen. Ich finde es bei dieser Kampagne auch wichtig, dass man gut überlegt, wann und mit wem man eingehender und nach den Gesprächsregeln der radikalen Höflichkeit in einen Austausch geht. Gehen wir es zu unbefangen an, diskutieren wir zu emotional, können wir die Arbeitsbeziehungen auch beschädigen. 

Haben Sie Tipps, was zu tun ist, wenn Reden und Diskutieren nicht helfen?

Um die politischen Gräben zu überbrücken oder vielleicht davon wegzukommen, hilft die wohlwollende Haltung. Hier kann ich mich fragen:  Was finde ich an dieser Person gut, unabhängig davon, dass ich ihre Ansichten fürchterlich finde? Was finde ich als Arbeitskollegin oder Arbeitskollege gut, auf welcher Ebene kann ich in Resonanz treten?

Dann gilt es sich klarzumachen, was die eigene Haltung ist und wo die bereits erwähnten roten Linien sind. Wer diese kennt, kann an anderen Stellen auch wieder entspannter mit anderen sprechen. Ein dritter Tipp ist, zu schauen, wo es Gemeinsamkeiten gibt, etwa Hobbys, Sport, gemeinsame Erlebnisse oder Kontakte. Alles, wo man sich in eine Verbundenheit bringt.

Vielen Dank für das Interview, Anne Otto!

 

Kampagne "Im Gespräch bleiben - Haltung zeigen"

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