Ein Doppelinterview: Wie beobachten und dokumentieren wir richtig im Kita-Alltag?
Die Orientierungspläne der 16 Bundesländer empfehlen, Bildungsprozesse von Kindern zu beobachten und zu dokumentieren. Warum haben das Beobachten und Dokumentieren einen so hohen Stellenwert?
Dr. Damen: Das Beobachten kindlicher Situationen im Alltag ist das Grundhandwerkszeug von Erzieher*innen. Nur über das Sehen und Beobachten lernen von Situationen kann ich verstehen, was Kinder tun und es in Bezug auf mein pädagogisches Handeln reflektieren. Ich beobachte, was im “Hier und Jetzt” ist und plane danach meine Angebote für die Kinder.
Stephanie Niemierza: Mithilfe des Beobachtens können wir die Potenziale des Kindes entdecken und Bildungsprozesse anstoßen. Ein Beispiel: Wenn wir sehen, dass die Kinder Schüttexperimente mit Wasser und Sand machen, stellen wir ihnen daraufhin unterschiedliche Becher und Schüsseln hin, mit denen sie erst einmal ganz alleine experimentieren können. Und aus dieser Beobachtung heraus gestalten wir ein neues Angebot.
Entwicklung und Bildung: „Es gibt zwei Beobachtungs-Brillen, die sich ein Erzieher aufsetzen muss.“
Wie beobachte ich ein Kind richtig? Gibt es hier eine bestimmte Methode?
Dr. Damen: Es gibt zwei Beobachtungs-Brillen, die sich ein Erzieher*in bewusst aufsetzen sollte. Die erste ist die Entwicklungsbrille. Hier beobachte ich, wie sich das Kind in Kompetenzbereichen entwickelt: Ist es altersgerecht entwickelt? Kann es zum Beispiel genügend Wörter für sein Alter aussprechen? Dabei bin ich in meiner Wahrnehmung stark fokussiert und sehe und höre auf das, was ich zur kindlichen Entwicklung wissen will. Das ist notwendig, weil ich dann erst erkenne, in welchen Situationen das Kind zum Beispiel spricht und in welchen es Sprechen vermeidet.
Die zweite Brille ist die Bildungsbrille: Hierbei geht es um das Wahrnehmen der Themen und Stärken des Kindes. Ich kann das Kind in seiner Entwicklung nur begleiten, wenn ich seine Stärken, Interessen und Vorlieben kenne. Diese Beobachtungen muss ich allerdings viel freier angehen. Das heißt, ich bin in Situationen dabei und nehme wahr: Ist das, was ich sehe für das Kind typisch oder sehe ich etwas Neues? Ich muss mich irritieren lassen, neugierig bleiben und immer wieder fragen: „Was tun die Kinder da gerade?“ Erst dieser Blick befähigt mich dazu, Bildungsprozesse und Bildungssituationen von Kindern zu erkennen und die Bedeutung zu reflektieren.
„Das Dokumentieren soll etwas über die Stärken des Kindes aussagen."
Aber birgt die Entwicklungsbrille nicht die Gefahr, Kinder schnell in eine Schublade zu stecken?
S. Niemierza: Beide Instrumente sind feste Bestandteile der Pädagogik. Ich muss einen gewissen Rahmen dafür haben, wie eine normale Entwicklung bei 90 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe aussieht. In unseren Einrichtungen arbeiten wir mit den Grenzsteinen der Entwicklung. Das Dokumentieren aber – also das, was ich den Kindern und Eltern in die Hand gebe –, soll etwas über die Stärken des Kindes aussagen und nicht über seine Defizite. Diese können bald überwunden sein. Morgens um 9 Uhr kann das Kind noch keinen Nachstellschritt, aber nachmittags um 15 Uhr kann es ihn dann doch. Würden wir die Defizite dokumentieren, bestünde die Gefahr, Schubladen zu bilden und Kinder festzuschreiben.
Die Beobachtung scheint sehr auf das Individuum ausgerichtet. Wie wollen Sie auf dieser Grundlage ein passendes Angebot für eine ganze Gruppe von Kindern erstellen?
Dr. Damen: Das Reflektieren einzelner Bildungsprozesse und -situationen von Kindern führt zur Verarbeitung und damit zur Planung der pädagogischen Arbeit. In der Regel sind die Kinder auch in Gruppen aktiv. Wenn ich beobachte, dass sich mehrere Kinder im Außengelände mit Kleinstlebewesen beschäftigen, kann ich überlegen, wer diesen Prozess begleitet oder welche Materialien dieses Interesse unterfüttern können. Ein anderer Weg wäre, über Kinderkonferenzen die Interessen und Themen der Kinder zu sammeln und gemeinsam zu entscheiden, was davon als nächstes angegangen werden soll.
„Viele Beobachtungsverfahren sind selbstgestrickt und wissenschaftlich nicht gesichert.“
Gibt es verschiedene Konzepte oder Ansätze, wie Kinder beobachtet werden sollen? Oder ist das für alle Erzieher*innen gleich?
Dr. Damen: Wir haben in Nordrhein-Westfalen zwei Jahre lang im Rahmen des Forschungsprojektes „BeDo-NRW - Beobachten und Dokumentieren in Kindertageseinrichtungen“ den Stand der Beobachtungs- und Dokumentationsarbeit erhoben und gesammelt, welche Beobachtungsverfahren genutzt werden. Wir haben dabei mehr als 44 Beobachtungsinstrumente recherchiert und in der Befragung von ca. 10.000 Kitas in NRW weitere Verfahren benannt bekommen. Viele davon sind selbstgestrickt und wissenschaftlich nicht gesichert. Von daher stehen pädagogischen Fachkräften sehr viele Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zur Verfügung. Das erzeugt nicht Möglichkeiten, sondern verursacht Unsicherheiten. Ein weiteres Problem ist, dass ein Großteil der Beobachtungsverfahren den Bereich der kindlichen Entwicklung bedienen, wenige Beobachtungsverfahren richten den Blick auf Bildungsprozesse von Kindern.
S.Niemierza: Das ist auch, was Erzieher*innen oft stresst: Nicht zu wissen, welche Methode sie bei der Vielfalt an Beobachtungsinstrumenten einsetzen sollen. Wenn ich aber weiß, welches Instrument ich benutzen kann und wofür, dann empfinde ich die Lerngeschichten im Alltag nicht als zusätzliche Aufgabe, sondern priorisiere anders und verliere weniger Zeit.
Sie sehen also große Defizite beim Wissen um das Beobachtungsverfahren, im Speziellen, wenn es um die Bildungsprozesse von Kindern geht?
Dr. Damen: Ja, es reicht nicht aus, das Kind nur in seiner Entwicklung zu beobachten. Durch die Entwicklungsbrille sehe ich zwar, dass ein Kind beispielsweise sehr wenig spricht. Es nützt dem Kind aber nichts, wenn ich es aus diesem Wissen heraus immer wieder zum Sprechen auffordere. Ich muss stattdessen die Bildungsbrille aufsetzen und überlegen: Wofür interessiert sich das Kind? Was sind seine Vorlieben? Wenn ich sehe, dass das Kind z.B. Spielzeugtiere liebt, dann kann ich über das Spielen mit den Tieren versuchen, eine Nähe und vertraute Beziehung aufzubauen und so dem Kind Sicherheit geben. Das heißt, ich kann über seine Vorlieben Sprachanlässe schaffen.
„Lerngeschichten sollen ein dialogischen Element sein", sagt Prof. Dr. Damen. Die Kinder sollen sie sich jederzeit selbst nehmen und mit anderen Kindern oder den Eltern gemeinsam anschauen können (Foto: Kita des pme Familienservice).
"Jedes Kind hat bei uns ein so genanntes Ich-Buch in der Gruppe liegen."
Das heißt, Ziel der Beobachtung und Dokumentation ist es, den Kindern Stärke und Sicherheit mitzugeben?
S. Niemierza: Richtig. Das passiert vor allem durch die Dokumentation dieser Interessen, zum Beispiel, indem ich Fotos davon mache, wie das Kind eine riesige Landschaft mit Spielzeugtieren aufbaut und eine Lerngeschichte dazu schreibe. Diese Geschichte kann ich dem Kind später vorlesen und zeige ihm damit: Ich sehe dich, ich finde total spannend, was du machst und du bist Spezialist auf diesem Gebiet. Wir wählen gemeinsam mit den Kindern die Fotos aus, damit sie sich einbringen und zeigen können: „Ich bin dieses Kind und diese Erfahrung habe ich gesammelt.“
Lerngeschichten werden also nicht im stillen Kämmerlein, sondern gemeinsam mit den Kindern gestaltet?
Dr. Damen: Genau. Lerngeschichten sollen ein lebendiges Objekt sein, das die Kinder jederzeit sehen, greifen und angucken können und mit dem sie in den Austausch mit ihren Erzieher*innen gehen können. Und natürlich auch andersrum: die Erzieher*innen mit den Kindern. Es ist ein sehr dialogisches Element in der Dokumentationsarbeit.
S. Niemierza: Jedes Kind bei uns hat ein so genanntes „Ich-Buch“ in seiner Gruppe liegen, das es selbst aus dem Schrank holen kann, um es selbst immer wieder anzuschauen oder auch anderen Kindern und seinen Eltern zu zeigen.
10 Wochen oder länger haben Sie die Kinder nicht gesehen, weil die Kitas aufgrund des Corona-Ausbruchs geschlossen waren. Woher wissen Sie, wie sie sich in den letzten Wochen entwickelt und was sie gelernt haben?
S. Niemierza: Wir haben den Eltern ziemlich bald nach dem Corona-Ausbruch einen neuen Bedo-Bogen geschickt, damit sie gemeinsam mit den Kindern aufschreiben können, was sie zum Beispiel für neue Rituale kennengelernt haben. Den Bogen können die Kinder am ersten Kita-Tag mitbringen und wir versuchen damit, so genannte Übergänge zu schaffen. Wir erfahren, was die Kinder alles gemacht und neu gelernt haben in den letzten Wochen und knüpfen dort wieder an, wo wir uns trennen mussten.
Prof. Dr. Sonja Damen ist Diplom-Heilpädagogin und leitet den B.A. Studiengang „Kindheitspädagogik“ an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf und begleitet und berät den pme Familienservice schon seit mehr als zehn Jahren.
Stephanie Niemierza ist Einrichtungsleitung der Düsseldorfer Kita Locomotion Kids des pme Familienservice und arbeitet außerdem in der Zentrale Kita-Koordination der pme Lernwelten.
Über die pme Lernwelten
Als Träger von über 75 Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen bieten wir Eltern und ihren Kindern eine hochwertige und flexible Pädagogik an. In unseren bunten Teams bringen sich Menschen aus unterschiedlichen Nationen ein, mit vielfältigen Talenten und Interessen.
Mehr zu unserem pädagogischem Konzept und aktuelle Stellenangebote finden Sie hier: www.familienservice.de/web/pme-lernwelten
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