Was ist bedürfnisorientierte Erziehung?
Wie können wir die Bedürfnisse unserer Kinder besser verstehen und gleichzeitig klare Grenzen setzen? Darum geht es bei der bedürfnisorientierten Erziehung. Die Art und Weise, wie wir mit unseren Bedürfnissen und Gefühlen und denen unserer Kinder umgehen, hat einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung unserer Kleinen.
Ein Beitrag von Rebecca Brielmaier, ausgebildete Erzieherin, Pädagogin und Fachberaterin im Bereich Eltern & Kind bei pme Familienservice.
Inhaltsverzeichnis
- Was ist bedürfnisorientierte Erziehung?
- Wie sieht bedürfnisorientierte Erziehung im Alltag aus?
- Was sind die Vorteile von bedürfnisorientierter Erziehung?
- Welche Bedürfnisse haben Kinder von 0 bis 18 Jahren?
- Wie erkenne ich die Bedürfnisse meines Kindes?
- Was ist der Unterschied zwischen Bedürfnissen und Wünschen?
- Warum sind Grenzen wichtig? 5 Tipps zum Grenzen setzen
- Warum ist Selbstfürsorge so wichtig?
- Fazit von Fachberaterin Rebecca Brielmaier
Was ist bedürfnisorientierte Erziehung?
Bedürfnisorientierte Erziehung ist doch das, wo das Kind machen darf, was es will, oder? Eines der größten Missverständnisse ist, dass es bei bedürfnisorientierter Erziehung nur darum ginge, die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen – und zwar immer und am besten sofort. Genau das ist es nicht.
Bedürfnisorientierte Erziehung (auch „Attachment Parenting“ genannt) bedeutet, die emotionalen, sozialen und physischen Bedürfnisse eines Kindes wahrzunehmen, zu respektieren und einfühlsam darauf zu reagieren. Es geht darum, die Welt durch die Augen des Kindes zu sehen und die Gefühle ernst zu nehmen. Denn jedes Kind ist einzigartig.
Wir sind also gefordert, zu schauen, welches Bedürfnis hinter dem jeweiligen Verhalten steckt und was das Kind wirklich braucht. Dazu bedarf es einer offenen, wertschätzenden und empathischen Kommunikation.
Bedürfnisorientierung ist gleichzeitig eine Haltung, die die Kinder ohne Zwang, frei von Strafe oder Gewalt und ohne Druck in ihrer individuellen Entwicklung begleitet.
Wie sieht bedürfnisorientierte Erziehung im Alltag aus?
Bedürfnisorientierte Erziehung im Familienalltag bedeutet, zu erkennen und zu verstehen, was hinter den emotionalen Zuständen, den Handlungen und dem Verhalten des Kindes steckt.
Es geht um eine respektvolle Beziehungsgestaltung auf Augenhöhe. Mit liebevollen Interaktionen, Zuwendung und Verständnis wird ein Vertrauensverhältnis geschaffen, dass für die gesunde emotionale Entwicklung des Kindes entscheidend ist. Es ist eine Erziehung ohne Beschämung.
Kennst du das Gefühl, wenn dein Kind sich scheinbar grundlos verweigert oder weint, weil es die falschen Socken anhat und du nicht weißt, wie du reagieren sollst? Ist dein Kind wirklich 'trotzig', oder versucht es nur, dir etwas Wichtiges mitzuteilen?
Vielleicht braucht dein Kind mehr Entscheidungsfreiheit und möchte einbezogen werden. So wie wir jeden Morgen selbst entscheiden, was wir gerne anziehen möchten.
Was sind die Vorteile von bedürfnisorientierter Erziehung?
Die Frage, warum bedürfnisorientierte Erziehung sinnvoll ist, stellen sich viele Eltern. Es gibt schließlich zahlreiche Erziehungsstile, die alle verschiedenen Ansätze verfolgen. Doch was macht bedürfnisorientierte Erziehung so besonders?
Dieser Ansatz ermutigt Kinder, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre Autonomie zu entwickeln und ihren Selbstwert zu erkennen und zu stärken. Und es ermutigt Eltern, auf sich selbst zu schauen und ihre Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen.
Die bedürfnisorientierte Erziehung legt einen großen Wert auf die Eltern-Kind-Bindung und die emotionale Gesundheit. Bindung nimmt hier eine zentrale Rolle ein, als Basis für das kindliche Wohlbefinden, das Vertrauen und die gesunde emotionale Entwicklung.
Eltern zeigen ihren Kindern, dass deren Gefühle, Bedürfnisse und Temperament anerkannt werden und bedeutsam sind, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Negative Emotionen werden nicht ignoriert. Es geht um einen angemessenen Umgang mit Wut, Angst und Frustration.
1. Aufbau einer sicheren Eltern-Kind-Bindung
Indem du die Bedürfnisse deines Kindes wahrnimmst und verstehst, baust du Vertrauen und Sicherheit auf. Es entsteht ein Gefühl von Geborgenheit, denn dein Kind fühlt sich wertgeschätzt, verstanden und respektiert. Diese sichere Bindung bildet die Grundlage für eine gesunde Entwicklung und wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl und die Resilienz deines Kindes aus.
2. Förderung der emotionalen Entwicklung
Kinder zeigen oft durch Wut, Impulsivität oder auch Traurigkeit, dass etwas nicht stimmt. Ihnen fehlt in jungen Jahren die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren und das Verhalten bewusst zu steuern und somit ihre Bedürfnisse zurückzustellen. Impulse und Gefühle sprudeln ungefiltert heraus. Wenn du deinem Kind hilfst, seine Gefühle zu verstehen, und ihm zeigst, wie es diese ausdrücken kann, unterstützt du positiv die Entwicklung der emotionalen Intelligenz.
3. Förderung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung
Kinder, deren Bedürfnisse erkannt und respektiert werden, entwickeln ein starkes Selbstvertrauen und die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie bekommen Raum, ihre Autonomie zu entwickeln, auf ihre Wahrnehmung, Gefühle und Bedürfnisse zu sehen, sie zu verstehen und klar zu kommunizieren. Dies ist eine wichtige Fähigkeit für das spätere Leben.
4. Konfliktlösung und Kooperation
Konflikte werden nicht als etwas Negatives betrachtet, sondern als Gelegenheit für dich und deine Kinder, Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten zu entwickeln. Bedürfnisorientierte Erziehung trägt dazu bei, Konflikte zu reduzieren, und fördert so ein harmonisches Familienleben. Die Konflikte stellen eine Lernmöglichkeit dar, um gemeinsam mit den Kindern nach konstruktiven Lösungen zu suchen, die die Bedürfnisse aller Familienmitglieder berücksichtigen.
Welche Bedürfnisse haben Kinder in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen? (0 bis 18 Jahre)
Bedürfnisse sind das, was wir zum Leben und Überleben brauchen. Je kleiner die Kinder sind, umso schwieriger ist es für sie, ihre Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Eltern die Bedürfnisse erkennen und bei der Befriedigung unterstützen.
Diese Bedürfnisse ändern sich im Laufe der Jahre und hängen mit der körperlichen, emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes zusammen.
Die bedürfnisorientierte Erziehung ist also nicht auf ein bestimmtes Alter beschränkt, sondern lässt sich in jeder Lebensphase anwenden. Nichts ist in Stein gemeißelt.
- Säuglinge (0–1 Jahr) brauchen vor allem Bindung und Nähe, Sicherheit und verlässliche Reaktionen auf ihre Signale. Durch die liebevolle Fürsorge entwickeln sie Vertrauen.
- Kleinkinder (1–3 Jahre) entdecken ihre motorischen Fähigkeiten, werden agiler und erkunden ihre Umwelt. Sie fordern mehr Autonomie und Raum. Hinzu kommen klare, liebevolle Grenzen und viel Geduld seitens der Eltern.
- Vorschulkinder (3–6 Jahre) entwickeln ihre Fantasie und soziale Fähigkeiten. Soziale Interaktionen und Freundschaften werden wichtig. Die kognitive Entwicklung schreitet zunehmend voran, das Kind zeigt mehr Interessen. Kommunikation und Befriedigung der eigenen Bedürfnisse werden stärker.
- Schulkinder (6–12 Jahre) haben ein wachsendes Bedürfnis nach intellektuellen Herausforderungen. Gleichaltrige werden immer wichtiger, und die Kinder entwickeln enge Freundschaften und fordern mehr Unabhängigkeit und die Übernahme von Verantwortung.
- Jugendliche (12–18 Jahre) streben nach Unabhängigkeit, Identitätsfindung und Autonomie. Sie benötigen Freiraum, nabeln sich von den Eltern ab, suchen aber gleichzeitig nach Verständnis und emotionaler Unterstützung.
Wie erkenne ich die Bedürfnisse meines Kindes?
Um die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, ist es wichtig, auf die nonverbalen Signale, das Verhalten und die Emotionen zu achten. Vor allem neugeborene Kinder äußern ihre Bedürfnisse zunächst nicht direkt, sondern durch Mimik, Gestik und Weinen.
Wenn sie älter werden, kann das auch mit Rückzug oder anderen Verhaltensweisen einhergehen. Generell ist wichtig:
- Beobachten,
- körperliche Signale wahrnehmen,
- empathisch zuhören und Emotionen ernst nehmen.
Was ist der Unterschied zwischen Bedürfnissen und Wünschen?
Wünsche sind Vorstellungen oder ein Verlangen nach Dingen, die über die grundlegenden Bedürfnisse hinausgehen – sie sind „nice to have“ und individuell ausgerichtet.
Ein Beispiel: Ich brauche Nahrung zum Überleben (BEDÜRFNIS). Die Strategie zur Erfüllung des Bedürfnisses ist, etwas zu essen. Ich kann mir Nudeln wünschen (WUNSCH).
Es geht also darum, was Kinder und Eltern brauchen – weniger um das, was sie sich wünschen.
Wie gehe ich am besten mit Wut und Frustration um?
In Situationen von Wut und Frustration kann es helfen, sich diese Fragen zu stellen:
- Warum verhält sich mein Kind gerade so?
- Ist es vielleicht nur ein Wunsch?
- Welches Bedürfnis steckt dahinter?
- Was genau braucht mein Kind jetzt, um wieder glücklich und ausgeglichen zu sein?
Auf die Bedürfnisse deines Kindes einzugehen bedeutet aber nicht, dass alles erlaubt ist. Kinder brauchen ebenso klare, liebevoll gesetzte Grenzen, um Orientierung und Sicherheit zu haben. Grenzen und Bedürfnisse sind nicht im Widerspruch zueinander – vielmehr ergänzen sie sich.
Dein 5-jähriges Kind soll sich für den Kindergarten anziehen. Normalerweise schafft es das schon ohne Unterstützung. Aber heute fängt es an zu weinen, verweigert und äußert, dass es “das nicht kann“.
Warum verhält sich mein Kind gerade so?
Das Weinen und auch die Aussage, dass es "das nicht kann", könnte darauf hindeuten, dass es sich überfordert oder unsicher in dieser Situation fühlt. Vielleicht ist es müde, hatte einen schlechte Nacht, oder es gibt eine neue Herausforderung im Kindergarten, die es gerade belastet. Das Verhalten deutet auf ein Bedürfnis nach Unterstützung und emotionaler Sicherheit hin.
Was braucht mein Kind jetzt?
Erst einmal tief durchatmen, denn Ermahnen und Drängen führt meist zum Gegenteil des Gewünschten. Vielleicht sagst du: "Es ist okay, wenn du dich heute so fühlst. Lass uns das zusammen machen." Du hilfst beim Anziehen und gibst ihm gleichzeitig das Gefühl, dass es in Ordnung ist, Hilfe anzunehmen.
Warum sind Grenzen wichtig?
Bedürfnisorientierte Erziehung ist kein "freies Spiel ohne Regeln und Grenzen". Es geht vielmehr darum, einen Raum zu schaffen, in dem die Bedürfnisse deines Kindes berücksichtigt werden, während du dennoch für Struktur und Sicherheit sorgst. Hier können die Kinder je nach Alter und Entwicklungsstand natürlich einbezogen werden. Regeln und Grenzen müssen nicht von den Eltern allein aufgestellt werden. Setzt euch gemeinsam an einen Tisch und findet Regeln, die für euren Familienalltag passen.
Es ist also ein Gleichgewicht aus Freiheit und klaren, respektvollen Regeln und Grenzen. So entsteht eine vertrauensvolle Beziehung, in der sich das Kind geborgen und in seiner emotionalen und sozialen Entwicklung unterstützt fühlt. Grenzen zu setzen stellt definitiv eine Herausforderung dar und erfordert viel Energie, Geduld und Verständnis. Daher ist es wichtig, auch einen weiteren Aspekt zu betrachten: die Selbstfürsorge.
5 Tipps und Beispiele, wie du Grenzen im Alltag umsetzen kannst
1. Klare und verständliche Kommunikation: Erkläre deinem Kind verständlich, klar und direkt, warum eine Grenze notwendig ist. Es hilft deinem Kind, Anweisungen und Erwartungen besser zu verstehen. Eine einfache Erklärung wie „Du musst jetzt schlafen, damit du morgen ausgeruht bist“ hilft deinem Kind zu verstehen, warum die Regel besteht.
2. Empathie zeigen: Eine Regel oder eine Grenze zu setzen bedeutet nicht, die Gefühle deines Kindes zu übergehen. Zeige Verständnis, wenn es frustriert ist: „Ich weiß, du möchtest jetzt weiterspielen, aber es ist Zeit fürs Abendessen. Danach kannst du weiterspielen.“
3. Alternative anbieten: Statt sich auf das zu konzentrieren, was das Kind nicht bekommen hat, könntest du deinem Kind alternative Lösungen oder Optionen anbieten, um mit der Situation umzugehen. „Du kannst entweder nach dem Abendessen weiterspielen oder dir ein Buch ansehen.“
4. Flexibilität: Regeln und Grenzen sind ein wesentlicher Bestandteil der bedürfnisorientierten Erziehung, doch sie müssen nicht starr sein. Die Bedürfnisse, die jeweilige Situation und die Entwicklungsstufe des Kindes werden in deine Entscheidungen einbezogen.
5. Mitbestimmung ermöglichen: Sei mutig und lass deine Kinder an Entscheidungen teilhaben, wenn dies möglich ist. Es trägt dazu bei, dass Kinder sich als Teil des Entscheidungsprozesses fühlen und die Regeln und Grenzen besser akzeptieren.
Warum ist Selbstfürsorge so wichtig?
Jetzt hast du erfahren, dass in der bedürfnisorientierten Erziehung der Fokus darauf liegt, die emotionalen und physischen Bedürfnisse deines Kindes zu verstehen und darauf einzugehen. Bedürfnisorientierte Erziehung kann aber auch dazu führen, dass du deine eigenen Bedürfnisse vernachlässigst.
Selbstfürsorge ist eine wesentliche Grundlage für die bedürfnisorientierte Erziehung. Sie ermöglicht es dir, ausgeglichen und aufmerksam auf die Bedürfnisse deines Kindes einzugehen, während du gleichzeitig deine eigene Gesundheit und dein Wohlbefinden im Blick behältst. Selbstfürsorge darf kein Luxus sein, sondern ist notwendig, um sowohl die eigene Gesundheit als auch die Qualität der Erziehung aufrechtzuerhalten:
- Es ist wichtig, zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen.
- Genauso wichtig ist, zu akzeptieren, wenn man Erschöpfung verspürt, und sich die Erlaubnis zu geben, Pausen einzulegen.
- Selbstfürsorge hilft, ausgeglichen zu bleiben und die Herausforderungen des Elternseins besser zu bewältigen.
Kinder lernen vor allem durch Nachahmung. Wenn du dich gut um dich selbst kümmerst, zeigst du deinem Kind, wie wichtig es ist, auf sich selbst zu achten. Du lebst gesunde Gewohnheiten vor, die das kindliche Bewusstsein für Selbstpflege und emotionale Gesundheit fördern.
Ein paar Gedanken zum Schluss von Rebecca Brielmaier
Bedürfnisorientierte Erziehung ist mehr als ein Erziehungsansatz. Sie ist eine Haltung, die auf Verständnis, Empathie und respektvoller Kommunikation basiert.
Der Weg dahin ist eine Reise des ständigen Anpassens und Voneinander-Lernens. Mit Geduld, Empathie und Selbstfürsorge kannst du diese Reise erfolgreich gestalten und eine starke, liebevolle Verbindung zu deinem Kind aufbauen. Eine achtsame Balance zwischen klaren Grenzen, Bedürfnisorientierung und Selbstfürsorge schafft die Grundlage für eine liebevolle und respektvolle Erziehung.
Jeder muss für sich entscheiden, wie er seine Kinder erziehen möchte. Was für die eine Familie passt, ist nicht zwingend das Richtige für eine andere. Und selbst wenn sich Eltern für den bedürfnisorientierten Erziehungsstil entschieden haben, bedeutet das nicht, dass dies im Alltag auch immer gelingt.
"Kinder sind Experten für ihre eigenen Bedürfnisse. Unser Job als Eltern ist es, sie dabei zu unterstützen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und auszudrücken.“ – Jesper Juul